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Einmal Neustart, bitte

Dieser Eintrag heute entstand im Rahmen meiner Teilnahme bei der Blogparade von Magdalena Brzuzy: Sie rief uns Bloggerinnen und Blogger dazu auf, zum Thema "Erlebe die Freude am Sein - Neuausrichtung, Potenzialentfaltung & Erfüllung." die eigenen Wege zu beschreiben. 

Danke für die Einladung, liebe Magdalena.

 

Wo fange ich also an, von meiner Neuausrichtung zu erzählen? Ich denke, ich fange beim Ende an. Dem Ende meiner unzähligen Runden in der emotionalen Achterbahn, in der ich seit meiner Geburt saß. Ich bin quasi darin groß geworden, in diesem ständigen Auf und Ab, in Geruckel, Geschüttel, Geschrei, Gekreische, entsetzlichen Kurvenfahrten. Das Schlimmste für mich war, dass ich überhaupt keine Kontrolle über diesen Zug, der sich "dysfunktionale Familie" nennt, hatte. Ich konnte nicht anhalten, nicht langsamer fahren - oder gar aussteigen. Irgendwann gewöhnt man sich an dieses Rauschen im Ohr, die  Watte im Kopf,  den Druck auf dem Bauch und nicht zu wissen, was einem ums nächste Eck erwartet. Eine Achterbahn des Lebens, die auch gleichzeitig ein giftiges Gleiten durch eine Geisterbahn war und mir hier und da Entsetzen auf die Seele klatschte. Der Chauffeur dieses rasendes Zuges war meine Familie - insbesondere meine Eltern, die mir jedes Mal winkten, wenn ich vorbeiraste, Hilfe rufend und wimmernd, dass ich raus will. Raus aus diesem auf lange Sicht tödlichen Reigen aus Schreck, Schock, Schmerz. Aber insbesondere  meine Mutter ließ ihn nicht los, diesen Hebel, der dafür gesorgt hätte, dass dieser Alptraum an Aufs und Abs im Leben ein Ende nimmt. "Ich bin die Bestimmerin" rief sie immer mit einem riesigen Megaphon in mein Ohr und in meine Seele. 

Diese Aufs und Abs, dieses Hin und Her, dieses heiß und kalt, diese scharfen Kurven, harten Bremsungen und Raketenstarts aus dem Nichts dauerten erst Jahre, dann Jahrzehnte. Die Gurte waren so festgezurrt, dass meine Seele nur noch eine taube Ohnmacht fühlte - nur so war dieser Horrortrip irgendwie auszuhalten.

 

"Ich möchte einfach sterben", sagte ich 3 mal. Einmal mit 7, einmal mit 23, und einmal mit 34. Da unternahm ich Suizidversuche. Ohne Erfolg, und das ist auch gut so, denn tief im Innern wollte ich immer leben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Leben ja, aber nicht in dieser Achterbahn. Mein Vater hatte sich 1989 aus der Steuerkabine verabschiedet; ich rief ihm noch zu, dass er mir doch bitte helfen soll. Aber er wollte es nicht hören. Er ging und kam nie wieder zurück. Die Hand meiner Mutter war inzwischen an diesem Steuerhebel meiner Lebensachterbahn, in der sie mich von klein auf festgezurrt hatte, festgewachsen; mit der anderen winkte sie mir fröhlich zu. Kam jemand vorbei, erzählte sie freudig, welch einen tollen Tag wir doch mit der Achterbahn verbringen - wir beide, Mutter und Tochter. Mutter- und Tochtertag. "Welches Kind kann schon von sich behaupten, eine eigene Achterbahn zu haben?" rief sie fröhlich und die Leute nickten anerkennend und bewundernd. 

Wenn man vom Leben geschüttelt wird, hat man doch immer wieder Zeit zum Nachdenken und Nachfühlen. In winzigen Momenten zwischen zwei Loopings und 3 Haarnadelkurven. Und in genau solch einem Blitzlichtmoment traf ich nach über 40 Jahren eine Entscheidung: "Ich steige einfach aus. Ich kann nicht mehr."  Ich überlegte, was mir passieren wird, wenn ich einfach abspringe. Oder wo der beste Ausstiegspunkt ist. Wo würde ich hingeschleudert werden? Egal - ich will hier raus... Mit meinem messerscharfen Willen, den ich über Jahrzehnte zu einer funkelnden Klinge gewetzt hatte, schnitt ich die Gurte des emotionalen Missbrauchs, der Verunsicherung, der Täuschung und des Stumm-Machens langsam durch. Die Gurte waren so zähl und dick, dass es mich unendlich Kraft kostete. Es vergingen 3 Jahre, bis ich es geschafft hatte, die Gurte zu durchtrennen und mich aus dem Würgegriff des schlechten Gewissens zu befreien: 2017 sprang ich aus der emotionalen Achterbahn. Ohne Netz, ohne doppelten Boden, ohne Fallschirm. Es war ein freier Fall, weg von der Familie. "Ich bin ganz allein! Was ist, wenn mir was passiert?" Diese Gedanken rauschten durch meinen Kopf, während ich fiel und fiel und fiel. Aus der Ferne hörte ich das entsetze Kreischen meiner Mutter und ihre Tentakeln versuchten noch, ihr Spielzeug - mich - zu greifen. Aber ich war durch den Schub so weit wegkatapultiert worden, dass sie mich nicht mehr schnappen und umklammern konnte. Ich landete weich. In meinem Leben. Ich war nicht allein - ich hatte mich. Und auf mich war immer Verlass. Ich rappelte mich auf und betrachtete all meine Wunden, die diese emotionale Achterbahnfahrt hinterlassen hatte. Geknicktes Selbstwertgefühl. Eine völlig zerrupfte Selbstliebe. Viele Dellen auf der Seele und die Haut, mit der ich mich hätte abgrenzen können, war weggerissen. Aber ich sagte zu mir: "OK, Du hast ziemlich viele Schäden. Aber keinen Totalschaden." Auf geht's. Und ab da...ging es aufwärts. In dem Tempo, das mir gut tat. Ich übernahm das Steuer meines Lebens. Ein Neustart. In allen Bereichen. 

 

Was aus der Achterbahn meiner Mutter geworden ist, weiß ich nicht. Ich bin weggezogen. Sie hat mich gefunden - wie immer. Ich war in der Vergangenheit schon oft weggezogen. Sie hat mich immer gefunden.  Ihre Tentakeln klopften an die Türen meines Arbeitgebers. Sie solidarisierte sich mit meinem Ex-Mann und gab ihm Tipps, wie sie mir gemeinsam meine Tochter wegnehmen könnten.  Aber ich hatte inzwischen so viel schützende Haut gebildet, dass ich mich gut abgrenzen konnte. Ihr Gift drang nicht mehr in meine Seele ein. 

 

2019 starb sie überraschend. Eine ihrer Freundinnen, die auch eine Achterbahn betreibt, in der sie ihren inzwischen 50 Jahre alten Sohn bis heute festgeschnallt hat, überbrachte mir die Nachricht am Telefon. Die Stimme: Beißend kalt. "Sie haben Ihrer Mutter das Herz gebrochen!" schnauzte sie in den Hörer. Ich bedankte mich für ihre Mühen und legte auf. Ich hatte inzwischen gelernt, dass schwarze Schafe immer an allem Schuld sind. Denn damit hält man ihre Seelen klein. 

 

2017 war der Start in mein Leben. Die Jahre zuvor war ich nur ein Spielzeug. 

 

Seid unbedingt ganz gut zu Euch. Egal, was man Euch eingeflüstert hat: Ihr seid gut, wie Ihr seid. Ihr seid nicht allein. Wir sind viele. 

 

Alles Liebe. Steph

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Kommentare: 2
  • #1

    Lila Lena (Freitag, 24 März 2023 16:55)

    Krass, wie Du das beschreibst...ich habe in jeder Kurve diese Ohnmacht gefühlt. Ich kenne das so gut. Diese heile Kulisse, niemand würde einem glauben, was dahinter abgeht. So was gibt es wirklich. Toxische Familien.

  • #2

    Mim | still & sensibel (Freitag, 24 März 2023 17:44)

    Hallo Steph,

    wow, du hast ja eine ganz schön harte Zeit hinter dir. Ich finde es unglaublich stark, wie du den Absprung gewagt hast. Wie du dich freigekämpft und dir dein Leben zurückgeholt hast. Das beeindruckt mich sehr.
    Ich war auch immer das schwarze Schaf in der Familie, aber so krass wie bei dir, war es bei mir nicht und ich komme mit meinen Eltern und meiner Schwester heute gut aus. War aber ein langer Weg bis zu diesem Punkt.

    Ganz liebe Grüße
    Mim